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Aus "Boatpeople" wurden Bundesbürger

Vor 30 Jahren kamen 69 vietnamesische Flüchtlinge nach Hollage

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In Wallenhorst leben (Stand Januar 2010) 668 Ausländer aus 76 Staaten, die Ausländerquote beträgt 2,78 Prozent. Hinzu kommen viele Menschen, die zugewandert sind und die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen. Ihr Zusammenleben mit den Einheimischen thematisiert der zehnte „Tag des Anstoßes“ 2010 unter dem Motto „Wir sind Wallenhorst – einheimisch und zugewandert“.

Die Berichterstattung zum Jahresthema soll einen Eindruck vom Miteinander von Alteingesessenen und Neubürgern vermitteln. Als Höhepunkt wird bei der Abendveranstaltung im November eine Person, die sich ehrenamtlich besonders für Integration und Miteinander einsetzt, mit dem „Stein des Anstoßes“ 2010 geehrt werden.

Im Folgenden geht es um das Schicksal einiger Familien, die in den 80-er Jahren als sogenannte Boatpeople aus Vietnam in die Gemeinde Wallenhorst kamen. Wer einen Themenvorschlag für die weitere Berichterstattung hat, kann sich unter Tel. (05407) 888-103 oder unter der Mailadresse anke.rehling@remove-this.wallenhorst.de an Anke Rehling von der Gemeinde Wallenhorst wenden. Ansprechpartner für alle, die einen Preisträger vorschlagen wollen, ist Rüdiger Mittmann unter Tel. (05407) 888-510 oder unter ruediger.mittmann@remove-this.wallenhorst.de .


Wie verzweifelt müssen Menschen sein, um in einem überladenen und baufälligen Boot über den Ozean aus ihrer Heimat zu fliehen, ohne ausreichende Verpflegung und ohne die leiseste Ahnung, ob, wo und wann sie wieder an Land gehen werden? „Unsere Sehnsucht nach religiöser Freiheit und nach Meinungsfreiheit war größer als die Angst vor den Gefahren“, sagt Van Thanh Nguyen.

Der dreifache Familienvater gehörte zu den sogenannten Boatpeople, die 1980 aus dem kommunistischen Vietnam und vor den Folgen des Vietnamkrieges flohen. Neuer Wohnort der Familie Nguyen, ebenso wie der Familien von Quang Khai Pham und Khac Nhan Pham, wurde der Wallenhorster Ortsteil Hollage – und mit der Zeit fanden sie hier auch eine zweite Heimat.


Eine zweite Heimat

Dass sie ausgerechnet nach Hollage kamen, ist dem damaligen Gemeindedirektor Hugo Pott zuzuschreiben. Er erklärte die Bereitschaft der Gemeinde, vietnamesische Flüchtlinge aufzunehmen. Insgesamt siedelten sich damals 69 Boatpeople aller Altersgruppen in Hollage an.

Noch heute sind die Familien Hugo Pott dankbar – zum einen für die Aufnahme an sich, zum anderen aber auch für seine Initiative, den Neuankömmlingen Paten an die Seite zu stellen. Diese waren direkte Ansprechpartner für die Flüchtlinge, redeten deutsch mit ihnen, stellten Kontakte zu den Einheimischen her, standen bei Behördengängen zur Seite oder halfen bei der Wohnungseinrichtung.

Anneliese Nolte war eine dieser Paten. „Ich hatte Zeit, und ich habe gern Menschen um mich“, begründet sie ihr Engagement rückblickend. Noch heute erinnert sie sich daran, dass viele Einheimische die ersten Schritte der neuen Mitbürgerinnen und Mitbürger in der neuen Heimat unterstützten. „Es war wichtig, dass ganz Hollage als Ort das mitgetragen hat“, findet sie und fügt hinzu: „Warum auch nicht? Wir hatten doch alles, diese Menschen aber hatten gar nichts.“

Van Thanh Nguyen bestätigt: „Wir sprachen kein Deutsch und alles, was wir besaßen und uns aufgebaut hatten, hatten wir durch die Flucht zurückgelassen. Wir mussten bei Null anfangen und uns alles wieder aufbauen.“ Trotzdem hat niemand von ihnen die Flucht aus Vietnam bereut – so gefährlich sie auch war.


Ein gefährlicher Weg

Denn: Da Vietnam nur von Staaten umgeben war, die sich nicht als Zuflucht eigneten, blieb nur der Seeweg. So quetschte sich Van Thanh Nguyen mit seiner hochschwangeren Ehefrau, dem gemeinsamen kleinen Kind und vielen anderen Menschen in ein überfülltes Boot, das über den Indischen Ozean auf eine ungewisse Reise ging.

Die Gruppe hatte Glück. Nach einigen Tagen ohne Verpflegung mitten auf dem Ozean nahm das deutsche Hospitalschiff „Cap Anamur“ sie auf. „Leider hatten viele unserer Landsleute nicht das gleiche Glück“, sagt Van Thanh Nguyen.

Von Indonesien aus wurden sie über Singapur nach Deutschland gebracht und kamen über einige Stationen schließlich in die Gemeinde Wallenhorst. Woher nimmt man die Kraft für eine solche Odyssee mit ungewissem Ausgang? „Die Suche nach Freiheit hat uns getrieben“, begründet Quang Khai Pham, der heute mit seiner Frau das Restaurant Lan im Wallenhorster Zentrum betreibt. Und Khac Nhan Pham fügt hinzu: „Die Grausamkeit des kommunistischen Regimes in Vietnam war der Grund, zu gehen.“ Schon sein Vater habe ihm damals geraten, mit seiner Familie das Land zu verlassen.


Ein Neubeginn mit Fleiß und Engagement

Ein Heimatland haben die Flüchtlinge hinter sich gelassen, ein neues hinzugewonnen. Sie alle fühlen sich heute in Hollage und in der Region zu Hause. „Die Arbeit hat es uns ermöglicht, uns gut zu integrieren“, beschreibt Van Thanh Nguyen, der seit 27 Jahren bei Siebdruck Ludewigt beschäftigt ist. Sie sind sich einig, dass sie in Deutschland „eine zweite Heimat“ gefunden haben.

Zur ersten Heimat bestehen inzwischen wieder Kontakte. So telefoniert zum Beispiel Quang Khai Pham mit seinen dortigen Familienangehörigen. Auch die Überführung seines verstorbenen Vaters habe er begleiten können. „Wir dürften heute auch nach Vietnam reisen, da wir deutsche Staatsangehörige sind“, erklärt Van Thanh Nguyen.

Wie er sind auch seine Kinder mit viel Fleiß und Engagement ganz in Deutschland angekommen – privat und beruflich. „Es war mir wichtig, dass meine Kinder ihren Begabungen nachgehen“, sagt der Vater, „nur so kann man am besten seinen Beitrag zur Gemeinde und zum Staat leisten.“ So ist beispielsweise seine älteste Tochter Naturwissenschaftlerin und forscht an der Universität von San Francisco. In etwa zwei Jahren will sie zurück nach Deutschland und ihre Habilitation abschließen. Sein Sohn ist Mechatroniker und bildet sich zum Techniker weiter, die jüngste Tochter, die sich früher auch als Messdienerin engagierte, studiert Jura.

Auch die Kinder von Khac Nhan Pham haben ihren Weg gemacht. Tochter Dinh Diem Ngoc arbeitet als Ärztin am Klinikum Osnabrück, die jüngere Tochter Maria will kommendes Jahr ihr Abitur machen. Selbiges haben ebenfalls die drei Kinder von Quang Khai Pham absolviert. Sein Sohn ist Maschinenbauingenieur, die Töchter arbeiten in der Versicherungsbranche und als Hotelfachfrau.

Was ihre Eltern auf sich nehmen mussten, um ihnen all das zu ermöglichen, ist den Kindern bewusst. „Wir sprechen darüber, aber die Situation ist schwer nachzuvollziehen, wenn man sie nicht erlebt hat“, beschreibt Dinh Diem Ngoc Pham und betont: „Wir sind sehr dankbar, dass uns Menschen aufgenommen haben, sonst hätten wir das nicht schaffen können.“ Thi-Lan Pham, die Frau von Quang Khai Pham, ergänzt: „Menschen, die wir gar nicht kannten, haben uns Kuchen und Kleidung gebracht oder ihre Kinder geschickt, damit sie mit unseren spielen und deutsch sprechen.“

Dankbarkeit ist es also, die den Hollagern und damit auch Anneliese Nolte und Rita Overbeck – ihr verstorbener Bruder und dessen ebenfalls verstorbene Frau waren seinerzeit Paten – von Seiten der damaligen Boatpeople entgegenschlägt. Dabei sind auch sie selbst dankbar, beispielsweise für den nach wie vor sehr familiären Kontakt. „Sie laden mich sozusagen als Älteste in der Familie immer als Erste ein“, freut sich Rita Overbeck.

Und Anneliese Nolte verweist vor allem darauf, wie wichtig der persönliche, einander zugewandte Kontakt für Integration ist: „Ich weiß nicht mehr wirklich, wie wir uns damals verständigt haben, aber ich wurde immer auf eine Tasse Jasmintee zu ihnen eingeladen.“ Wenn die Atmosphäre hingegen unterkühlt und negativ gewesen wäre, davon ist sie überzeugt, „wäre das eingegangen wie eine Pflanze ohne Wasser.“

Eingegangen ist indes gar nichts, im Gegenteil. „Immer wieder wird es uns bewusst, wie viel Glück wir hatten, nach Wallenhorst kommen zu dürfen. Wir sind unendlich dankbar für die Chancen, die Deutschland uns und unseren Kindern geboten hat. Und ich hoffe, dass wir unseren Teil zur Gesellschaft beitragen“, bilanziert Van Thanh Nguyen.